Staat Land Frust – Möglichkeiten des selbstbestimmten Lebens

Dieser Text ist die Fortsetzung zu „Warum wir uns nicht auf den Staat verlassen dürfen: Der Fall Lützerath“i und ist noch vor den aktuellen Auseinandersetzung und Diskussionen im Camp enstanden, die auf den Polizeieinsatzii am 24.2.2022 gefolgt sind.

Inhaltswarnung: Polizeigewalt, Tod, staatliche Unterdrückung

 

Wir wollen frei leben, das heißt, dass wir nach unseren Bedürfnissen und Wünschen leben können, ohne dabei anderen zu sagen was sie dürfen oder nicht. Das versuchen wir im Einklang miteinander zu machen indem wir auf die Bedürfnisse und Wünsche aller Rücksicht nehmen und versuchen diese zusammen zubringen. Wir organisieren uns selbst, geben uns unsere eigenen Regeln, die wir gemeinsam erarbeiten. Der Staat hingegen zwingt uns in ein System der Unterdrückung und Gewalt. Wir müssen Leistung erbringen, in der Schule, auf der Arbeit, in der Universität, gegenüber den Lehrenden, der Firma und dem Chef. Der Staat gibt uns keinen Freiraum in dem wir sein können wer wir wollen. Der Staat versucht uns in der Illusion zu halten wir könnten mitbestimmen, was wie geregelt wird, wo die Gesellschaft hin will. Aber das ist kein Versprechen was gehalten wird. Wahlen, Parteien, Gewerkschaften dienen nur dazu uns das Gefühl zu geben, wir könnten selber machtvoll sein wenn wir im Herrschaftssystem nur den richtigen Platz haben. Die Teilhabe an der Macht verhindert aber, dass wir das abschaffen können was wir wollen. Schon Audre Lorde hat gesagt „The Master‘s tool will never dismantle the Master‘s house“ (Die Werkzeuge der Herrschers werden niemals das Haus des Herrschers zerstören können)iii. Gleichberechtigte Mitbestimmung ist eine falsches Versprechen des Staates und des Kapitalismus, welche uns alle und den Planeten ausbeutet und zerstört.

Der Staat achtet nur auf die Dinge die er für wertvoll erachtet. So interessiert den Staat nicht wie es dir geht und was du gerne machen möchtest, sondern nur wie „wertvoll“ du als Arbeitskraft bist um bestehende kapitalistische Verhältnisse zu erhalten.
In Lützerath arbeitet wir stetig an und mit uns, um so aufeinander zu achten. Wir versuchen uns als Individuen mit unterschiedlichen und einzigartigen Bedürfnissen zu sehen. Wir achten uns als Menschen und begegnen uns mit Respekt. Dabei ist egal wie viel du tragen, bauen, schreiben, kreieren kannst. Der Staat hingegen begegnet allem was anders oder kritisch ist mit Unterdrückung und Gewalt. Er lässt keinen Raum für Individualität abseits der kapitalistischen Norm. Wenn wir schon den Kapitalismus abschaffen wollen, warum machen wir dann immer wieder vor dem Staat halt? Wir haben doch schon oft genug gesehen, wie das staatliche geschützte Eigentum den Menschen die Lebensgrundlage entreißt, wie nationalstaatliche Grenzen Menschen töten, wie der Staat komplette Leben strukturiert und von sich vollkommen abhängig macht. Nicht nur der Kapitalismus ist das Problem, sondern auch die staatlichen Verhältnisse, die die Entfremdung zwischen allen Lebewesen immer weiter verfestigen.

Antistaatlichkeit bedeutet, dass wir uns organisieren und unsere eigenen Strukturen nach unseren Bedürfnissen schaffen. Wir versuchen einander zu zuhören und aufeinander ein zugehen. Wir halten Plena ab um Entscheidungen gemeinsam zu treffen ohne dabei Menschen zu übergehen. Wir bauen uns Häuser, wir kümmern uns umeinander und lösen Konflikte selber, wir organisieren unser (eigenes) Essen und organisieren die Zubereitung davon, wir reparieren und schaffen Neues statt ignorant zu zerstören, wir versuchen unserer Beziehungen zueinander zu heilen und wir versuchen dabei Vorurteile und Diskriminierungen abzubauen, wir versuchen keinen (Leistungs-)Druck zu reproduzieren, sondern teilen Verantwortungen und nehmen uns dabei die Zeit die wir brauchen ohne vorgegebenen Takt.

Das kann für viele unglaublich bereichernd sein – es ist traumatisierend in einer Gesellschaft zu leben, in welcher dir dein Wert tagtäglich abgesprochen wird und du die Dinge, die du gerne für dich und andere tun würdest, nicht umsetzen kannst. Gegen den Staat zu sein ist nicht nur eine lächerliche, sinnlose Perspektive, sondern für Menschen, die vom Staat tagtäglich unterdrückt werden, das einzig Mögliche was bleibt.
Wenn wir auf Klimacamps und auf Besetzungen sind, sind alle Strukturen selbst organisiert. Aber warum sollte diese Selbstorganisation, dieses selbstbestimmtes Leben, nur auf diese Orte beschränkt bleiben? Natürlich ist das kein Allheilmittel und es laufen oft Sachen schief oder sind ungerecht verteilt. Aber wir brauchen nicht um Erlaubnis zu fragen um Sachen zu ändern, wir sind nicht gefangen in diesen Strukturen und sie können uns ganz konkret auch das Gefühl geben, dass das was wir uns vorstellen können auch möglich werden kann, wenn wir uns zusammenschließen.
Wir sollten uns von der Vorstellung lösen, dass wir wenn wir Revolution wollen, uns auf den Staat verlassen können. Nicht nur, weil die meisten von uns schon selbst erlebt haben, was es bedeutet, wenn du selbst oder deine Freund*innen staatliche Gewalt erfahren: zum Beispiel rassistische Polizeikontrollen, Polizeigewalt oder im Gericht verurteilt zu werden. Sondern auch, weil der Staat in Hunderten Situationen gezeigt hat, dass er Kontrolle über Freiheit, Unterdrückung über Problemlösungen oder Profit über (ökologische) Gesundheit stellt. Kurz gesagt, der Staat repräsentiert immer das Gegenteil von dem was wir uns unter „befreiter Gesellschaft“ vorstellen.
Du kannst Polizeigewalt nicht netter machen, oder das Gericht viel fairer, warum sollten wir uns damit aufhalten es zu versuchen, wenn wir kreativ genug sind um uns eigene Strukturen aufzubauen? Lasst uns zusammen den Staat unnötig machen, indem wir uns selbst versorgen und uns so umeinander kümmern, wie es keine staatliche Struktur schaffen würde.

Wir sehen auch, dass autonome Unterstützung und Organisierung oft nicht verlässlich ist und es wird gefordert, dass diese vom Staat übernommen wird damit verlässliche Unterstützung da ist (zum Beispiel bei autonomen Gruppen die sich auf Spenden verlassen müssen um Geflüchtete zu unterstützen). Dabei wird der Staat wieder als Wohltäter gesehen, welcher dabei aber nicht alle gerecht unterstützt, sondern dabei auch von sich abhängig macht („du bekommst nur Geld wenn du arbeiten gehst“ / „ich schiebe dich nicht sofort ab wenn du arbeiten gehst“ / „ich tu dir nichts solange du zur Schule gehst“).
Die Beziehung zum Staat ist wie eine gewaltvolle, abhängig machende Beziehung in der du nur Liebe für Gegenleistung bekommst und fast immer sind es eher Schläge als Liebe die wir in der Beziehung zum dem Staat bekommen. Die staatliche bürokratische Organisierung ist verkrustet und voller erniedrigender Bedingungen, sodass es somit unmöglich gemacht wird auf die einzelnen Bedürfnisse einzugehen. Autonome Organisierung kann das erlauben und soll das auch, sodass sie die Alternative zu den toxischen Beziehungen in staatlichen Strukturen darstellt. Besetzungen und langfristige autonome Zonen sind Orte, an denen tagtäglich Revolution gelebt wird. Selbstorganisation bedeutet nicht, dass du alles selber machen musst und für alles die Verantwortung trägst. Im Gegenteil, es bedeutet sich gegenseitig zu helfen, sich zu unterstützen, neues zu lernen und die Strukturen so zu organisieren, dass sie Produktiv sind und wir uns dabei wohl fühlen, sodass die Arbeit die wir in unseren Strukturen machen, gerne machen.
Wir sollten uns davon lösen, Besetzungen bloß als eine radikale Art und Weise zu sehen, den Staat dazu zu bringen das zu machen was wir wollen. Eine Besetzung ist kein Mittel zum Zweck, sondern in Besetzungen kriegen Menschen die Möglichkeiten sich auszuprobieren, wie ein anderes Leben aussehen könnte. Wir müssen dem Staat die Räume klauen und sie uns auch nicht wieder nehmen lassen. Das, was wir hier aufbauen, ist viel zu wertvoll um es einfach aufzugeben. Verteidigen wir unser freies Leben in unseren gemeinsamen Räumen!

 

Als Bewegung innerhalb einer Besetzung keine Forderungen an den Staat zu stellen bedeutet nicht, dass wir keine Vorstellungen haben, wie eine gerechte Zukunft und Gegenwart aussehen könnte. Wir haben alle Ziele, Träume und Wünsche – die sich, wie immer in Gruppen, auch stark voneinander unterscheiden. Wenn sich eine Bewegung unter bestimmten Forderungen vereinen soll, wird die Vielfalt an Positionen und Sichtweisen schon von vorne eingeschränkt. Und: wen wollen wir überhaupt mit unseren Forderungen erreichen? Wenn wir Forderungen an den Staat richten, dann erkennen wir damit auch wieder die Macht des Staates an.iv
Und dass dieser nichts dafür tut, den Klimawandel aufzuhalten, liegt nicht daran, dass er erst dazu gedrängt werden müsste, sondern ein Teil des Problems ist. Ich denke, dass auch die militanteste Aktion nicht das ist, was ich gut finden würde, wenn sie letztendlich nur den Staat dazu bringen will in ihrem Willen zu handeln, anstatt die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Wir können uns dazu entscheiden, dem Staat nicht noch mehr Macht zu zusprechen als er sich selbst zuspricht. Das bedeutet nicht, die grausame staatliche Realität zu ignorieren und sich vollkommen abzuwenden, sondern sie anzuerkennen und genau deswegen sich nicht erneut in eine Bittsteller*innen-Position zu begeben.

Es bringt auch nichts, weniger militant zu sein als mensch gerne sein würde, um damit Cops und Staat nicht zu verärgern. Auch wenn wir viele sind, ist der Staat und die Polizei mächtig und gefährlich. Militante, ignorante, wütende Held*innen zu sein ist genauso scheiße, wie aus Überzeugung das „Richtige“ zu tunmit Cops und Staat zu kooperieren. Wir müssen lernen mit unseren Ängsten vor dem Räumungsversuch, vor staatlicher Gewalt und vor der Klimakrise umzugehen. Es ist verständlich, wenn sich mensch nicht vorstellen kann, gewaltvoll den Räumungsversuch zu stoppen und aus Angst vor Repressionen oder persönlicher Veränderung bestimmte Dinge nicht tun will. Es ist genauso verständlich, dass manche unglaublich wütend sind und andere Vorstellungen haben von dem was sie gerne tun würden. Wir hoffen aber, dass nur wenige ernsthaft davon überzeugt sind, dass die Polizei zu unserem Schutz da ist. Gleichzeitig ist es wichtig, dass wir miteinander sprechen: über kurzfristige Taktiken, wie wir Lützerath verteidigen können, aber auch über langfristige Strategien wie wir mit Staat und Polizei umgehen wollen, und wie wir tatsächlich unabhängiger werden können und Selbstversorgung in jedem Sinne möglich machen können,

 

Wie sollen wir über das nachdenken was in Lützerath gerade passiert?

Lützerath ist ein wichtiger Ort. Zum einen, weil dieser Ort ein Zuhause geworden ist für viele Menschen (und viele kein anderes Zuhause haben), aber auch, weil wir hier etwas aufbauen konnten, dass zeigt, dass Revolution möglich sein kann. Vielleicht ist es deprimierend zu denken, dass ich als einzelner kleiner Mensch ja sowieso nichts erreichen kann. Aber vielleicht ist es auch okay, genau das zu akzeptieren und nicht von sich selbst, einer Gruppe oder einer einzelnen Besetzung zu erwarten, dass sie die Kraft hätte auf einen Schlag alles abzuschaffen gegen was wir kämpfen. Revolution bedeutet nicht, einfach ein Herrschaftssystem durch ein anderes zu ersetzen. Es bedeutet jeden Tag etwas zu lernen, zu verändern und auf einander zu zugehen – und das ist unglaublich anstrengend, wenn es richtig gemacht wird und sich Menschen aufeinander einlassen. Unsere Beziehungen zueinander sind nicht nur die Grundlage für eine Revolution, sie sind die Revolution an sich. Sich miteinander wohl zu fühlen, und Unterdrückungen in unseren Beziehungen zu überwinden, mit den Hierarchien umgehen zu lernen die unser aller Leben formen, und trotz dessen, dass wir gelernt haben und systematisch weh zu tun miteinander zu kämpfen– das ist die eigentliche Revolution um die es geht. Es geht nicht darum, Hierarchien in unseren Beziehungen miteinander zu überwinden, um dann Leute in unsere Projekte miteinzubeziehen, es geht darum, dass wir auch unsere Kämpfe gemeinsam fühlen und kämpfen können (genauso wie oft zu akzeptieren, dass wir nicht auf die selbe Art gemeinsam kämpfen können weil wir Teil des Problems sind und uns auch Kämpfe nicht aneignen sollten). Wir können anerkennen und es feiern, dass wir in einer Gesellschaft alle voneinander abhängig sind, und den Staat als Vermittler und zentrale Steuerung unseres Lebens ablehnen, weil wir ohne ihn unsere Kräfte und Fähigkeiten besser für unsere Bedürfnisse einsetzen können. Wir wollen ein dezentrales Netz an Leuten und Organisationen die füreinander da sind, anstatt den Staat als abhängig machende Organisation die uns erniedrigt und vermeintlich auffängt.
Genauso wollen wir keinen grünen, vom Staat gesteuerten, Kapitalismus, weil wir den Wachstumszwang und die Ausbeutung als Kern des Problems gefunden haben. Also können wir genauso Gründe gegen einen ökologisch angehauchten Staat finden: das Grundproblem des Staates ist die soziale Hierarchie, die Herrschaft über die Menschen und deren Leben. Menschen, Lebewesen, die Umwelt werden als Mittel zum Zweck betrachtet, als etwas was mensch beHerrschen und kontrollieren muss.
Revolution bedeutet, auch das Zusammenleben miteinander als politisch zu betrachten und als nichts, was von oben herab organisiert werden kann, weil damit zwangsläufig Menschen übergangen und nur als Mittel zum Zweck betrachtet werden. Kleine, alltägliche Handlungen können unglaublich revolutionär sein, wenn sie Alternativen zur bestehenden Gesellschaft sind. Es ist revolutionär, wenn jemand bei dir ist und du dich dann traust, sexistischen Menschen die Stirn zu bieten. Es ist revolutionär, wenn du nicht wieder der emotionale Abfalleimer für alle bist, weil Menschen sich gleichberechtigt gegenseitig unterstützen. Es ist revolutionär, wenn eine Abschiebung aufgehalten wird, es ist revolutionär wenn Menschen die Rassismus erfahren zueinander finden, sich nicht mehr alleine fühlen und sich ihre Selbstbestimmung zurückholen.
Es wäre revolutionär, Zonen zu schaffen, wo es keine Polizei gäbe und wo sich Menschen wirklich sicher fühlen könnten. Es wäre revolutionär, Zonen zu schaffen, wo der Staat unser Denken und Handeln nicht mehr beeinflussen kann und wir frei von kapitalistischen Zwängen leben können.
Wir können jetzt eine andere, bessere Gesellschaft innerhalb der Gesellschaft schaffen, die für das systematische Sterben von Lebewesen, Ökosystemen, und dem kompletten Planeten verantwortlich ist – denn Revolution bedeutet, gegen das Sterben zu kämpfen.

Radikale soziale Bewegungen nehmen schon längst Bezug auf anarchistische Konzepte: Bezugsgruppen zu bilden oder die gegenseitige Unterstützung die nicht darauf beruht dass wir uns alle mögen müssen um uns zu helfen, sondern aus der Überzeugung heraus, dass wir nur zusammen Dinge aufbauen können.
Insbesondere in der Klimabewegung gibt es schon Anschluss an viele anarchistische Perspektiven, diese gilt es jetzt weiter auszuformulieren und weitere Schritte zu gehen. Es ist dringend an der Zeit uns als Bewegung weiter zu entwickeln und der immer größer werdenden Zerstörung entsprechende Antworten entgegen zu stellen. Dabei kann Lützerath der richtige Ort sein um diese und andere revolutionäre Perspektiven zu entwickeln.

Für ein autonomes, gerechtes, selbstbestimmtes Leben für alle in Lützerath.

 

i „Warum wir uns nicht auf den Staat verlasse dürfen: Der Fall Lützerath“ ist hier zu finden: https://anarchistsinluetzi.blackblogs.org/2022/02/16/warum-wir-uns-nicht-auf-den-staat-verlassen-durfen-der-fall-lutzerath/

ii „Angriff auf Lützerath am 24.2.2022 und was nun folgen muss“ ist hier zu finden: https://anarchistsinluetzi.blackblogs.org/2022/02/25/angriff-auf-lutzerath-am-24-2-22-und-was-nun-folgen-muss/

iii Der Text zum Zitat von Audre Lorde ist hier zu finden: https://collectiveliberation.org/wp-content/uploads/2013/01/Lorde_The_Masters_Tools.pdf Obwohl Audre Lord als Schwarze lesbische behinderte Feministin der 80er in den USA eine ganz andere Erfahrung hat als die meisten Menschen aus Lützerath, ist die Vorstellung davon, sich nicht den Methoden der Unterdrücker*innen zu bedienen wenn mensch Unterdrückung abschaffen will, etwas sehr wichtiges und inspirierendes.

iv „Warum wir keine Forderungen stellen“ von Crimethinc ist hier zu finden: https://anarchistischebibliothek.org/library/crimethinc-warum-wir-keine-forderungen-stellen